Anja Schulz

Die EZB und die Zinsentscheidung

Seit einem halben Jahr liegt die Inflationsrate in Deutschland konstant bei Werten über sieben Prozent. Im August kratzten die Verbraucherpreise gar an den acht Prozent – ein Höchststand, der zuletzt während der Ölkrise vor fast 50 Jahren beobachtet wurde. In anderen EU-Staaten, etwa den Niederlanden, Belgien oder Spanien, rutschte die Inflation bisweilen in den zweistelligen Bereich. Was heißt das für die kommenden Monate? Geht es nach Bundesbank-Präsident Nagel, so scheinen selbst Teuerungsraten von 10 Prozent nicht mehr undenkbar. Die anfängliche Hoffnung einer vorübergehenden Inflation, die quasi nur eine „Begleiterscheinung“ der Corona-Pandemie darstellen sollte, ist längst verflogen.

Zur Abfederung der Inflationsfolgen und Minderung sozialer Härten hat die Bundesregierung daher mehrere Entlastungspakete verkündet – zuletzt am vergangenen Wochenende. Das Gesamtvolumen der insgesamt drei Maßnahmenbündel liegt mittlerweile bei 95 Milliarden Euro. Analysen zeigen, dass die bislang ergriffenen (und zum Teil auch noch Wirkung entfaltenden) Maßnahmen Kaufkraftverluste ausgleichen konnten bzw. werden, insbesondere bei Haushalten mit niedrigem Einkommen. Doch eins sollte klar sein: Auf Dauer kann der Staat weder alles ausgleichen noch alle entlasten. Und: Die Inflation bekämpfen werden die Entlastungspakete auch nicht. Das ist schlussendlich Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB). Umso wichtiger ist es, dass sie sich nun auch konsequent ihrem originären Mandat annimmt und zur Preisstabilität beiträgt.

Selbstverständlich kann die EZB weder Lieferketten reparieren noch eigenhändig für sinkende Preise bei Energieträgern sorgen. Aber sie kann zur geldpolitischen „Normalisierung“ beitragen und Erwartungsmanagement betreiben. Denn aufgrund der jahrelangen Niedrigzinsphase pendelte sich die Inflationserwartung bis zuletzt auf einem überaus niedrigen Niveau ein. Das führte dazu, dass die preissteigernden Schocks (insb. pandemiebedingte Lieferengpässe) allzu lange als temporäres Phänomen und damit als nicht inflationsrelevant abgetan wurden. Noch vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine ging die EZB von einer „kurzfristigen Phase“ erhöhter Inflation aus, die im Laufe des Jahres „abklingen“ würde. Heute aber ist die Situation eine andere. Mit Blick auf die wirtschaftlichen Aussichten überwiegt am Finanzmarkt, bei Haushalten und Unternehmen die Unsicherheit. Der russische Energielieferstopp führt zu rasant steigenden Gaspreisen und die anhaltende Null-Covid-Politik in China verschärft vorherrschende Engpässe bei Lieferketten.

Die Folge: Die Inflationserwartungen steigen. Die wiederum sind zentral beim Abschluss von Tarif-, Kredit- und sonstigen lang laufenden Verträgen, in denen heute Zahlungen für morgen vereinbart werden. So kommt es, dass etwa Produktionskosten schon heute steigen und entsprechend auf den Kunden abgewälzt werden. Ein guter Indikator für diese Entwicklung ist die sog. Kerninflation. Diese gibt die Inflation ohne die besonders stark schwankenden Energie- und Nahrungsmittelpreise an und liegt in der Eurozone mittlerweile bei 4,3 Prozent. Zu beobachten ist also, dass sich die Inflation allmählich von einzelnen Bereichen auf die breite Wirtschaft ausdehnt. Hier kann und muss die EZB ansetzen und das hat sie am 8. September auch endlich getan. Mit der historischen Leitzinserhöhung um 75 Basispunkte – und damit dem größten Zinsschritt seit 20 Jahren – bewies die Europäische Zentralbank, dass sie um den Ernst der Lage weiß. Denn nachdem sie im Juli nur zögerlich auf den Anstieg der Inflationsraten reagierte, fragte sich manch einer, ob sie der Solvenz hochverschuldeter Euro-Länder mehr Priorität beimisst als der Geldwertstabilität (Stichwort Inflationserwartungen). Kritiker sahen bereits ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stehen. Nun hat offensichtlich das Umdenken begonnen. Gut so! Die Geldpolitik bleibt nur glaubwürdig, wenn sie handelt.